Woher genau das Wasser kommt, das ich zum Kochen oder Zähneputzen verwende, wusste ich nicht – es ist für mich als Abnehmer auch nicht weiter von Belang. Also musste ich das erst recherchieren: Mein Münchner Trinkwasser kommt aus dem Mangfall- und dem Loisachtal oder aus der Schotterebene zwischen Grub, Puchheim und Moosburg. Dafür habe ich natürlich gegoogelt, und dabei ist etwas geschehen, was deutlich macht, wo die Parallele zum Öffnen des Wasserhahns liegt: Ich habe eine Ressource angezapft, die, egal wie und wo, in für mich unerschöpflicher Menge bereitstand. Wie Wasser oder Strom. Es war die Rechenleistung irgendwelcher Server in irgendeinem Google Data Center, die für mich die Stichworte "Trinkwasser" und "München" aus Milliarden Webseiten ausgefiltert haben. Um diese Dienstleistung zu konsumieren brauchte ich – wie für Wasser oder Strom – nicht mehr als einen Netzanschluss. Die Rolle von Hahn oder Steckdose spielte der Browser.
Auf diese Weise bin ich so wie fast jeder schon lange, ungefragt und ganz selbstverständlich ein täglicher Nutzer der Cloud, in die immer mehr IT-Leistungen abwandern werden. Sicher nicht alle, aber viele. Experten des Beratungshauses Saugatuck Technology prognostizieren beispielsweise, dass bereits bis 2014 mindestens 40 Prozent der Finanzmittel für neue Systeme in die Cloud fließen werden, wo dann die Hälfte der neu hinzugekommenen IT-Workloads läuft. Das ist nicht etwa ein Resultat des Marketings, stattdessen ist der Kundennutzen die mächtige Triebfeder dieser Entwicklung. Die Zentralisierung virtueller Ressourcen verbilligt das Angebot, schenkt dem Nutzer Skalierbarkeit und Flexibilität und minimiert seine Risiken. Sie macht hohe Investitionen in später schlecht ausgelastete Technik überflüssig. Hauptsächlich aber erlaubt sie dem Nutzer die Konzentration auf sein Kerngeschäft, für das Rechentechnik so gut wie immer nur eine Hilfstechnologie ist – um den ganzen Rest kümmert sich in der Cloud der IT-Versorger.
Trotzdem: Ist das alles am Ende nicht doch bloß alter Wein in neuen Schläuchen, ein überdrehter Hype? Wasserleitungen kannten bereits die alten Römer, auch ihre Aquädukte führten Wasser über Kilometer in Siedlungen und einzelne Häuser. Als aber die erste öffentliche, zentrale Wasserversorgung auf dem europäischen Kontinent, die Hamburger Stadtwasserkunst von 1848, eine Großstadt an ein Trinkwassernetz anschloss, da hatte das eine andere Dimension. Virtualisierung gab es schon seit den Zeiten der Mainframe-Dinos, Hosting ist eine alte Dienstleistung, die Grenzen sind fließend, und von Cloud-Vorläufertechnologien wie SOA (Service-Oriented Architecture) und ASP (Application Service Providing) redet man seit mindestens 15 Jahren. Dennoch: Cloud Computing markiert den Umschlag in eine neue Qualität, die so erst jetzt möglich ist.
Natürlich gibt es momentan noch viele Probleme, natürlich ist der Nutzungsgrad noch nicht sehr hoch (16 Prozent im Mittelstand laut HP Cloud Index, aber jeder Dritte beschäftigt sich bereits intensiv mit dem Thema, und eine BITKOM-Umfrage wählte Cloud Computing 2012 zum dritten Mal in Folge zum wichtigsten IT-Thema überhaupt). Das war etwa bei der Elektrifizierung nicht anders: Gleich- oder Wechselstrom, welche Spannung, welche Steckdosen? Darauf konnte man sich lange nicht einigen. Die heute in Europa üblichen 230 Volt wurden erst 1983 zur Norm, und weltweit gibt es bis dato keine einheitliche Lösung. Heute sind wir Zeitzeugen einer weiteren Vernetzung nach demselben Muster und mit ganz ähnlichen Anlaufschwierigkeiten. Diesmal geht es um Informationsnetze. Die technischen, wirtschaftlichen, und auch kulturellen Folgen werden ähnlich gravierend sein wie beim Siegeszug des Stroms. Wir haben das Privileg, hautnah dabei zu sein.